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Unverhoffte Brüche und absurde Katastrophen Reinhard Giebels Geschichten kommen scheinbar harmlos daher. Mit sorgfältigen Sätzen und präzisen Darstellungen malt er deutsche Alltäglichkeiten und beschreibt die Menschen in ihrem Leben in dieser oft wohlgeordneten Welt. Nur lässt sich das Leben nicht vollends planen und Giebels hintergründiger, sanfter Humor begleitet die unverhofften Brüche, die kleinen Unfälle und absurden Katastrophen mit heiterer Gelassenheit und experimenteller Phantasie ...

Unverhoffte Brüche und absurde Katastrophen

Reinhard Giebels Geschichten kommen scheinbar harmlos daher. Mit sorgfältigen Sätzen und präzisen Darstellungen malt er deutsche Alltäglichkeiten und beschreibt die Menschen in ihrem Leben in dieser oft wohlgeordneten Welt. Nur lässt sich das Leben nicht vollends planen und Giebels hintergründiger, sanfter Humor begleitet die unverhofften Brüche, die kleinen Unfälle und absurden Katastrophen mit heiterer Gelassenheit und experimenteller Phantasie ...

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Reinhard Giebel · Rein <strong>akustisch</strong>


Reinhard Giebel<br />

Pianist und Mitbegründer des Gunter Hampel-Quintetts.<br />

Musikalische Zusammenarbeit<br />

mit Long John Baldry, Toto Blanke,<br />

Olaf Kübler, Werner Lüdi, Dieter Nett, Buschi<br />

Niebergall, Frederic Norén und Benny<br />

Waters.<br />

Mehrere Ensembles in Wuppertal seit 1976<br />

(modern jazz / new jazz), Piano-Solokonzerte,<br />

Veröffentlichung von 5 LPs und 6 CDs.<br />

Musik zu Kurzfilmen, Theatermusik, Hörspiele.<br />

Langjährige Lehrtätigkeit an einem Wuppertaler<br />

Berufskolleg (Englisch, Filmgeschichte<br />

und Filmproduktion).


Reinhard Giebel<br />

Rein <strong>akustisch</strong><br />

Kurzgeschichten<br />

N o r d P a r k


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Die Besonderen Hefte im<br />

N o r d P a r k V e r l a g<br />

Alfred Miersch<br />

Klingelholl 53 42281 Wuppertal<br />

Gesetzt in der Palatino<br />

Umschlaggestaltung und -fotografie<br />

© Reinhard Giebel, 2017<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN: 978-3-943940-27-5<br />

www.nordpark-verlag.de<br />

Die Besonderen Hefte werden eigenhändig in der Werkstatt<br />

des NordPark Verlages gesetzt, nach Bedarf in kleinen Auflagen<br />

gedruckt, dann handgefalzt und handgeheftet und in den<br />

Schutzumschlag aus dem Passat-Vorsatzpapier des<br />

Hamburger Papierherstellers Geese eingeschlagen.<br />

Für Sammler:<br />

dieses Heft wurde gedruckt:<br />

Oktober 2017<br />

Gedruckt auf dem Schleipen Werkdruckpapier<br />

der Cordier Spezialpapier GmbH aus Bad Dürkheim.<br />

Chlor- und säurefrei und alterungsbeständig<br />

http://cordier-paper.de


Inhalt<br />

Die Amis kommen 7<br />

Rein <strong>akustisch</strong> 12<br />

Kluft und Rang 21<br />

Ein appwexlunksreicher Tag 29<br />

Der Anglophile 42<br />

Figaro 50<br />

Wandern nach Zahlen 57<br />

Personbeschreibung 75<br />

Herrenfahrer 78


Die Amis kommen!<br />

April 1945. Der 2. Weltkrieg nähert sich seinem Ende.<br />

Deutschlands militärische Lage ist ausweglos.<br />

In einer kleinen Großstadt in Südniedersachsen hat der<br />

Krieg bisher relativ geringe Schäden angerichtet. Familie<br />

Bode macht sich dennoch Sorgen, da der Einmarsch der<br />

Amerikaner in ihre Stadt bevorsteht.<br />

In den vergangenen Wochen und Monaten hatten Hans<br />

und Irmgard Bode mit ihren zwei Kindern im Alter von<br />

zwei bzw. fünf Jahren viele Stunden, oft des Nachts, im<br />

Luftschutzkeller ihres Wohnhauses verbracht. Die Luftschutz-»Übung«<br />

folgte immer dem gleichen Rhythmus: Eine<br />

durchdringende Sirene heulte auf und warnte vor Fliegerangriffen<br />

/ die Bewohner des Hauses bewegten sich in den<br />

Keller / es folgte qualvolles Warten im Dunklen / schließlich<br />

Sirenen-Entwarnung, wenn die Gefahr vorüber war.<br />

Während die Erwachsenen dumpf vor sich hinbrüteten<br />

und kaum sprachen, fanden einige der anwesenden Kinder<br />

die Situation, die sie natürlich nicht richtig einstufen konnten,<br />

aufregend, zumindest außergewöhnlich. Gottseidank<br />

fiel nie eine Bombe auf das Haus.<br />

In jenen Tagen der Ungewissheit erreichte die Bodes ein<br />

Telefonanruf von Verwandten, die in einem nahegelegenen<br />

Dorf einen Bauernhof bewirtschafteten. Sie wurden eingeladen,<br />

dort zusammen mit einigen anderen verzweigten<br />

Familienmitgliedern das Kriegsende zu erwarten. Man war<br />

fest davon überzeugt, dass auf dem Land kein militärischer<br />

7


Großeinsatz durchgeführt und infolgedessen die Gefahr für<br />

Häuser und Menschen geringer als in einer dicht besiedelten<br />

Stadt sein würde. Herr und Frau Bode sagten freudig zu,<br />

platzierten ihre Kinder und die wichtigsten Habseligkeiten<br />

in einen geräumigen Handwagen und machten sich zu Fuß<br />

auf den Weg zu dem nahegelegenen Dorf, das ungefähr<br />

sieben Kilometer entfernt lag.<br />

Auf dem Bauernhof – die Bäuerin war Frau Bodes Schwester<br />

– warteten nun insgesamt acht Erwachsene und sechs<br />

Kinder gemeinsam in der Wohnstube auf das Kriegsende.<br />

Der Sicherheit halber wurden die Lichter ausgeschaltet.<br />

Draußen spielte sich ein absurdes Artillerie-Schauspiel ab,<br />

von den Erwachsenen mit Sorge, von den Kindern mit Neugier<br />

und Aufregung beobachtet: Die Amerikaner legten ein<br />

Trommelfeuer vor, das den Himmel in leuchtende Farben<br />

verwandelte. Sie gingen kein Risiko ein, weder materiell,<br />

noch personell. Als Antwort folgten schwache Erwiderungen<br />

einer Einheit der deutschen restlichen Durchhalte-Truppen.<br />

Dann eine kurze Pause. Dann der gleiche Ablauf, wobei<br />

die deutsche Antwort immer schwächer ausfiel.<br />

Nach drei Stunden wurde es still. Ein Auto fuhr auf den<br />

Hof, man hörte Türen knallen und knirschende Schritte.<br />

»Jetzt kommen sie«, flüsterte ein Erwachsener.<br />

Die Nazi-Propaganda hatte es den Deutschen jahrelang<br />

eingehämmert, dass die amerikanische Bevölkerung zu<br />

einem nicht geringen Teil aus Juden und Negern bestand<br />

und dass ein Zusammentreffen mit diesen Untermenschen<br />

höchst unerfreulich sein könnte.<br />

Die Haustür wurde geöffnet, die Klinke zur Wohnzim-<br />

8


mertür heruntergedrückt und es erschien ein Soldat der<br />

amerikanischen Armee. Er brachte eine Taschenlampe zum<br />

Vorschein, leuchtete auf die Anwesenden im Raum und<br />

knipste das Deckenlicht an. Im nächsten Augenblick sah<br />

jeder, dass dieser Soldat ein Schwarzer war. Einige Frauen<br />

kreischten kurz auf – ein Effekt der Nazi-Indoktrination.<br />

Hinter ihm kamen drei weitere Soldaten, Weiße. Einer von<br />

diesen, Sergeant und Wortführer, fragte, ob jemand Englisch<br />

spräche. Hans Bode meldete sich, er verfügte über<br />

passable Kenntnisse, um sich zu verständigen. Ihm wurde<br />

bedeutet, dass die vier Soldaten zumindest diese Nacht auf<br />

dem Hof bleiben würden, und der Soldat bat die Bäuerin<br />

und Bode, ihm die Schlafgelegenheiten zu zeigen. Später<br />

sollte die Bäuerin erzählen, dass sich einer der U.S.-Soldaten<br />

in voller Montur und mit dreckverschmierten Stiefeln auf<br />

ein Bett fallen ließ.<br />

In der Zwischenzeit – die Kinder und die Erwachsenen<br />

saßen noch immer regungslos da und warteten auf die Dinge,<br />

die da kommen sollten – war der besagte Farbige nach<br />

draußen gegangen; er kam nun mit einem Sack zurück, den<br />

man normalerweise mit dem Nikolaus assoziiert und ging<br />

auf den Esstisch zu. Er schnürte den Sack auf und schüttete<br />

eine große Menge Bonbons, in buntem Papier verpackt, auf<br />

den Tisch. Mit den Worten »Hey kids, come on!« forderte<br />

er die Kinder auf, sich zu bedienen. Zwei Frauen zischten<br />

durch die Zähne: »Nicht anfassen! Die sind bestimmt giftig!«.<br />

Die Kinder ließen diese Worte kalt, sie drängten zum<br />

Tisch und stopften sich den Mund voll mit den Bonbons.<br />

Der Sergeant instruierte Hans Bode, dass er – wenn nicht<br />

9


noch etwas anderes beschlossen würde – als eine Art Dolmetscher<br />

für die Amerikaner fungieren sollte. Sie würden<br />

ihm den Standort ihres neuen Hauptquartiers so schnell<br />

wie möglich bekanntgeben.<br />

Am nächsten Tag erfuhr er, dass sie sich festgelegt hatten<br />

auf den Bauernhof der Familie Schachtebeck, weiter<br />

unten im Dorf, und dass er sich von nun an jeden Morgen<br />

um 9 Uhr dort einfinden sollte, um die Tagesbefehle entgegenzunehmen<br />

und dann deren Zusammenfassung den<br />

Dorfbewohnern mitzuteilen.<br />

Am vierten Morgen stellte er sich wie gewohnt ein, hatte<br />

eine kurze Unterredung mit dem Standort-Kommandanten,<br />

und nachdem alles besprochen war, verabschiedete er sich<br />

und sagte: »Good-bye, and Heil Hitler!«<br />

Er hatte sich schon halb zum Gehen abgewandt und<br />

fühlte im nächsten Augenblick, dass sein Blut gefror. Er<br />

erwartete alles Mögliche, eine standrechtliche Erschießung<br />

nicht ausgeschlossen.<br />

Er war weder Parteimitglied gewesen, noch hatte er eine<br />

besondere Beziehung zum Nationalsozialismus gehabt. Es<br />

war einfach diese Angewohnheit, überall und jederzeit den<br />

Hitlergruß anzufügen, weil das grundsätzlich von jedem<br />

»Volksgenossen« erwartet wurde.<br />

Dabei war Hans Bode während der Nazi-Herrschaft<br />

vom Glück begünstigt gewesen: Er war Eisenbahner mit<br />

Leib und Seele, hatte sich vom Schlosserlehrling an hochgearbeitet<br />

und war zu Beginn des Krieges als ›UK [= unabkömmlich]<br />

Heimatverwendungsfähig‹ erklärt und mit der<br />

Leitung eines Bahnhofs einer benachbarten Stadt betraut<br />

10


worden; diese Funktion hatte er bis in die Endphase des<br />

Krieges innegehabt.<br />

Hier aber – in der Ortskommandantur – hatte er in diesem<br />

Moment das Gefühl, von allen guten Geistern verlassen<br />

worden zu sein. Nach einer kleinen Ewigkeit drehte er<br />

sich langsam um. Der Amerikaner saß entspannt in seinem<br />

Bürosessel, die Beine auf dem Schreibtisch vor sich ausgestreckt.<br />

Er lachte dröhnend und rief jovial: »O.K.! Heil<br />

Hitler! But that´s over now!«<br />

Zwei Tage später erhielt das Ehepaar Bode von einer<br />

Hausbewohnerin die telefonische Mitteilung, dass ihr<br />

Wohnhaus die Einnahme der Stadt durch die Amerikaner<br />

unbeschadet überstanden hatte und sie in ihre Wohnung<br />

zurückkehren konnten.<br />

Auf dem Rückweg in ihre Stadt begegnete die Familie<br />

einem endlosen Zug von deutschen Kriegsgefangenen,<br />

die in die Gegenrichtung trotteten. Diese bewegten sich<br />

zu dritt nebeneinander, bewacht von amerikanischen Soldaten,<br />

welche die Kolonne ausdruckslos blickender Männer<br />

mit dem Gewehr im Anschlag begleiteten, zu Fuß oder sitzend/stehend<br />

in Armee-Fahrzeugen, die im Schritt-Tempo<br />

dahinkrochen.<br />

11


Rein <strong>akustisch</strong><br />

I.<br />

30. April 1955, Bad R., Kleinstadt im Harz.<br />

Spärliche Plakatierung hatte in den letzten Wochen zu<br />

einem für den Ort traditionellen Ereignis eingeladen, dem<br />

»Tanz in den Mai«.<br />

Heute nun ab 20 Uhr spielte eine namenlose Kapelle in<br />

der Gastwirtschaft »Zum Schützenkrug« zum Tanz auf. Drei<br />

etwa 45jährige Freizeit-Musiker, mit dem Zug aus dem nicht<br />

allzu weit entfernten Göttingen angereist, sollten für die<br />

notwendige Stimmung sorgen: Anton Laiser (Klavier), im<br />

bürgerlichen Leben Uhrmachermeister, Paul Galinska (Kontrabass),<br />

Stromableser, und Karl Gehrlich (Tenorsaxofon),<br />

Krankenpfleger.<br />

Sie waren seit langer Zeit miteinander befreundet und<br />

hatten im III. Reich bei der Wehrmacht eine gründliche Ausbildung<br />

zu Orchestermusikern erhalten. Gehrlich erzählte<br />

bei jeder sich bietenden Gelegenheit jedem, der es hören<br />

wollte oder auch nicht hören wollte, dass sie als Militärmusiker<br />

als ›heimatverwendungsfähig‹ eingestuft und<br />

deswegen nicht an der Front eingesetzt wurden.<br />

Seit ein paar Jahren besserten sie ihr Taschengeld mit<br />

kleinen Tanzmusikjobs auf.<br />

Zwei der drei Musiker hatten ihre Instrumente – Kontrabass<br />

und Saxofon – im Zug mitbefördert, der dritte hatte<br />

den Transport der Noten übernommen. In jenen Jahren,<br />

12


in denen elektronische Musikinstrumente noch rar waren,<br />

verließen sich die Pianisten darauf, dass vom Veranstalter<br />

ein funktionsfähiges, gestimmtes Klavier bereitgestellt wurde<br />

– und waren dann auch oft verlassen.<br />

Als die drei die Gastwirtschaft betraten, stellten sie sofort<br />

fest, dass sich auf der Bühne kein Klavier befand. Auf<br />

Befragen eröffnete ihnen der im übrigen recht freundliche<br />

Wirt mit Namen Karl Riebold, er habe vor vier Tagen das<br />

hauseigene Piano stimmen lassen wollen, doch der bestellte<br />

Stimmer habe ihm erklärt, das Instrument sei »nicht mehr<br />

zu retten«; er riet ihm, es verschrotten zu lassen. Zufällig<br />

kam natürlich zwei Tage später ein Altwarenhändler des<br />

Weges … Der Wirt entschuldigte sich für sein Versäumnis,<br />

die Musiker nicht rechtzeitig davon in Kenntnis gesetzt zu<br />

haben.<br />

Auf die Frage: »Was nun?« hatte Riebold sogleich eine<br />

Antwort parat: Eine seiner Cousinen, die im Ort lebte, besitze<br />

ein Akkordeon, das – falls gewünscht – zur Verfügung<br />

stünde. Laiser, ein gemütlicher Ostpreuße, den so schnell<br />

nichts aus der Ruhe brachte, sagte: »Schauen wir uns das<br />

doch einmal an!« Zusammen mit einem Sohn des Wirts<br />

machte er sich auf den Fuß-Weg zum Wohnhaus der Cousine<br />

und schaute sich das Instrument an: Es war, wie versprochen,<br />

ein Akkordeon, aber leider ein Knopf-Akkordeon.<br />

Hierzu eine kurze Erläuterung: Die für die rechte Hand<br />

vorgesehene »Melodie-Seite« eines ›normalen‹ Akkor deons<br />

[auch als Tasten-Akkordeon oder Piano-Akkordeon bezeichnet]<br />

ist mit piano-ähnlichen Tasten ausgerüstet, die für<br />

die linke Hand vorgesehene »Begleitungs- oder Harmonie-<br />

13


Abteilung« enthält Knöpfe, so dass man, anders als beim<br />

Klavierspiel, hier mindestens zwei-dimensional denken<br />

muss. Das Knopf-Akkordeon [auch Knopfgriff-Akkordeon<br />

oder Knopfharmonika genannt], das früher entwickelt wurde<br />

als die ›Piano-Variante‹, ist auf beiden Seiten (für beide<br />

Hände) ausschließlich mit Knöpfen bestückt. Musiker, die<br />

das Tasteninstrument beherrschen, können nicht ohne weiteres<br />

ein Knopf-Akkordeon bedienen.<br />

Anton Laiser hatte zwar vor ein paar Jahren ein Tasten-<br />

Akkordeon besessen, dieses aber vernachlässigt und ›verstauben‹<br />

lassen; ohne Umschweife erklärte er nun seinem<br />

Begleiter, er fühle sich außerstande, auf einem Knopf-Akkordeon<br />

zu spielen.<br />

Die drei Musiker berieten nun, wie sie den Abend musikalisch<br />

gestalten sollten, denn durch die instrumentale<br />

Notlage waren ihre Programm-Pläne in Frage gestellt<br />

worden. Nach kurzer Überlegung entschieden sie sich, wie<br />

folgt vorzugehen: Der Bassist zupft, solange er kann, der<br />

Saxofonist bläst, solange seine Luft reicht, der Pianist singt<br />

und unterstützt damit das Melodie-Instrument; wenn der<br />

Saxofonist außer Atem ist, wartet er einen Moment und<br />

singt dann ebenfalls, der Bassist kann frei entscheiden, wie<br />

oft und wie lange er mitsingt.<br />

Dieses Konzept durchzuhalten erforderte einige Selbstdisziplin,<br />

schließlich aber blieben die Künstler ihrem bewährten<br />

Repertoire treu, welches aus aktuellen Schlagern<br />

sowie Erfolgen aus der Epoche des Dritten Reiches (»Das<br />

kann doch einen Seemann nicht erschüttern«) bestand.<br />

Rund zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

14


waren die Besucher solcher Feste noch relativ leicht zufriedenzustellen.<br />

Einige halblaute Rufe (»Stümper!«), die von<br />

einem Tisch vom Rande der Tanzfläche kamen, blieben die<br />

einzigen Unmutsäußerungen, und so tanzte das Publikum<br />

geduldig und ergeben dem Mai entgegen.<br />

Um 0:00 Uhr besang der ganze Saal hingebungsvoll den<br />

Mai, der gekommen ist, und zu guter Letzt endete die Veranstaltung<br />

um 3:00 Uhr.<br />

Bei der Auszahlung der Gagen an die Musiker empfand<br />

der Wirt ein wenig Mitleid mit den Dreien wegen des für<br />

sie etwas unglücklich verlaufenen Abends. Er bescheinigte<br />

ihnen, das Beste aus ihrer Situation gemacht zu haben, und<br />

gab ihnen ein kleines Trinkgeld mit auf ihre Eisenbahn-<br />

Heimreise.<br />

II.<br />

28. Juni 1985, derselbe Ort, dasselbe Lokal.<br />

Im Jahre 1975 übernahm Frank Roxenberg – den alle Welt<br />

nur ›Roxy‹ nannte – die Gaststätte und fühlte sich bemüßigt,<br />

ihr einen neuen Namen zu geben, und alle Welt riet<br />

ihm zu ›Roxy‹.<br />

Zum zehnjährigen Jubiläum veranstaltete er ein Konzert<br />

mit der Band »Die Bachelors« aus Braunschweig, mit Geert<br />

Hornung (Keyboards), Hartmut Zambocky (E-Bass) und<br />

Ulf Richter (Drums).<br />

Der Wirt hatte in seinem »Festsaal« sieben Sitzreihen mit<br />

je acht Sitzplätzen arrangiert. Die Band war überregional<br />

bekannt, und das Lokalblatt hatte sich sogar dazu verstie-<br />

15


gen, den Auftritt als ›Sensations-Gastspiel‹ anzukündigen.<br />

Die Musik, mit der das Trio bekannt wurde, kann man<br />

als ›progressiven Pop‹ bezeichnen, es wurden vor allem<br />

international erfolgreiche Titel renommierter Bands ›gecovert‹.<br />

Blickfang auf der Bühne war die sogenannte ›Keyboard-<br />

Burg‹ des Tastenspielers: Zwei Keyboard-Ständer mit insgesamt<br />

neun großen, mittelgroßen und kleinen Synthesizern<br />

waren so aufgestellt, dass sie eine Gasse bildeten für den<br />

auf seinem Drehhocker rotierenden Geert Hornung.<br />

Das Konzert begann mit einer Begrüßungs-Ansage des<br />

Bassisten, die so leise ausfiel, dass man fast nichts verstehen<br />

konnte. Das setzte sich fort beim ersten fast unhörbaren Musiktitel,<br />

beim zweiten und beim dritten, bis auch dem letzten<br />

Anwesenden im Saal klar wurde, dass mit der PA Anlage<br />

etwas nicht stimmte, dass sie ganz einfach ausgefallen war.<br />

Alles Herumschrauben, alle Handgriffe nützten nichts, und<br />

man rätselte allgemein, welche Ursache das Versagen der<br />

Anlage haben konnte.<br />

Roxy, der Veranstalter, war überzeugt, dass es mit dem<br />

(viel zu) späten Eintreffen der Musiker in ihren zwei Kombis<br />

zusammenhing und dass sie bei all ihrem Equipment<br />

viel zu wenig Zeit für die ordnungsgemäße Verkabelung<br />

aufbringen konnten.<br />

Wie dem auch war: Die gesamte Elektronik inklusive<br />

Gesangs-Mikrofon fiel aus – und man musste schnell eine<br />

Ersatz-Lösung finden. Man fand sie, und sie sah so aus:<br />

Der Lead-Sänger (der Bassist) hatte für alle Fälle eine<br />

<strong>akustisch</strong>e Gitarre mitgebracht; er wurde gesanglich nach<br />

16


Kräften unterstützt von den Stimmen des Drummers und<br />

des Keyboarders, welcher dem Drummer rhythmisch mit<br />

einem Tamburin zur Seite sprang.<br />

Das alles ergab einen armseligen Sound, und nach einer<br />

knappen halben Stunde jämmerlichen Musizierens ertönt<br />

aus dem Publikum der Zwischenruf: »Anfänger! Hört euch<br />

mal Emerson, Lake und Palmer an!«.<br />

Nach weiteren zehn Minuten wendet sich der Bassist an<br />

das Publikum und erklärt das Konzert für beendet.<br />

Als der Wirt das hört, eilt er zur Bühne und verspricht den<br />

überwiegend aufgebrachten Konzertbesuchern, dass jeder,<br />

der ihn in den nächsten Tagen in seinem Büro aufsucht, den<br />

Preis der Eintrittskarte erstattet bekommt.<br />

Wie er schließlich mit den Musikern im Bezug auf die<br />

Auszahlung ihrer Gage verblieb, ist nicht überliefert.<br />

III.<br />

21.08.2003, derselbe Ort, dasselbe Lokal.<br />

Boris Beinwell, aus Bad R. gebürtig, war in den letzten<br />

20 Jahren durch seinen Gesang, sein Spiel auf der Gitarre<br />

und viele Auftritte mit seiner Band eine regional bekannte<br />

Musikgröße geworden. Seine Liebe gehörte der amerikanischen<br />

Country-Musik, sein Gesangs-Vorbild war Kenny<br />

Rogers, den er gern einmal persönlich kennengelernt und<br />

mit dem er gern einmal zusammen musiziert hätte.<br />

In seinen reiferen Jahren hatte er sich nun einen alten<br />

Traum erfüllt und 1999 ein Lokal erworben, in dem er selbst<br />

auftrat und auch andere Gruppen auftreten ließ. Den Namen<br />

17


der Gaststätte hatte er bei »Roxy« belassen; sie war inzwischen<br />

zu einem gutbesuchten Speiselokal geworden.<br />

Die Musikabende veranstaltete Beinwell unter dem<br />

programmatischen Titel »Rein <strong>akustisch</strong>«, wobei er lange<br />

schwankte zwischen diesem Terminus und dem MTV-Begriff<br />

»Unplugged«. In ihm war nach einigen bitteren Erfahrungen<br />

der Entschluss gereift, Musik aufzuführen ohne jede Elektronik,<br />

ohne Verkabelung und ohne Mikrofon-Einsatz; mehrfach<br />

hatte er erlebt, wie hilflos manche Musiker dastanden ohne<br />

elektronische ›Stütze‹, nun schloss er sie grundsätzlich aus<br />

für Darbietungen in seinem Haus.<br />

Für die heutige Abend-Veranstaltung – pünktlich zum 65.<br />

Geburtstag des großen U.S.-Stars Kenny Rogers – waren zwei<br />

Live Acts angekündigt.<br />

Den Anfang machte ein Solo-Auftritt von Martin Svoboda,<br />

dem tschechischen Astor Piazzolla. Wie dieser war er<br />

ein Virtuose auf dem Bandoneon; er spielte Solo-Stücke und<br />

begleitete gekonnt seinen eigenen Gesang. Zum Abschluss<br />

seiner Darbietung glänzte er mit dem Bravour-Lied »Granada«,<br />

das er mit ›Knödelstimme‹ vortrug. Großer Beifall.<br />

Der zweite Auftritt des Abends gehörte einem Trio aus<br />

Duderstadt mit dem Namen »DoReMi« und den Mitgliedern<br />

Reginald Gartz (Kontrabass und Gesang), Doris Sommer<br />

(Gesang und Perkussion) und Mina Sommer (Gesang<br />

und Perkussion), die sich aus Partikeln ihrer Vornamen recht<br />

einfallsreich ihren Bandnamen zusammengebastelt hatten.<br />

Ihr Repertoire bestand aus amerikanischen Country Songs,<br />

aus Folk Rock Songs wie »Blowin’ In The Wind« oder »Where<br />

Have All The Flowers Gone?« und Beatles-Titeln.<br />

18


Die Stücke lebten vom Solo- und Chor-Gesang der drei<br />

Bandmitglieder. Die beiden Schwestern hatten unterschiedliche<br />

Vorbilder: Während Doris Sommer der Country-Ikone<br />

Emmylou Harris mit deren gefühliger Stimme nacheiferte,<br />

schwärmte Mina für Kim Carnes und ihr aufgerautes Timbre.<br />

Wiederholt griffen sie zu Tamburin und Kastagnetten, um<br />

das rhythmische Element der Lieder zu verstärken.<br />

Abgesehen von wenigen ›verpatzten‹ Einsätzen und einigen<br />

Intonationsschwierigkeiten bei Tutti-Passagen boten<br />

die Drei gefällige Musik, die vom Publikum – auch wegen<br />

der freundlichen Präsentation – begeistert aufgenommen<br />

wurde.<br />

Zum Abschluss des Auftritts wartete der Kontrabassist<br />

Gartz mit einer Überraschung auf: In einer Dia-Show, die<br />

er bisweilen mit gestrichenen Bass-Melodien unterlegte,<br />

machte er die Besucher mit dem Leben eines musikalischen<br />

Vorfahren bekannt. Friedrich Baumann (1869-1955), sein<br />

Urgroßonkel mütterlicherseits, stammte aus dem Dorf N.<br />

bei Duderstadt. Er verbrachte sein ganzes Leben auf dem<br />

Familien-Bauernhof, den sein älterer Bruder nach dem Tode<br />

des Vaters übernahm, steuerte seinen Anteil zur Landwirtschaft<br />

bei, blieb Junggeselle, rauchte Pfeife, aß regelmäßig<br />

Harzer Käse, war ein Tüftler, wortkarg und in seiner Freizeit<br />

ein nicht alltäglicher Musikant.<br />

Genauer gesagt: Er war Bassist, strich und zupfte den<br />

Kontrabass & blies die Tuba. Und er wurde ein gesuchter<br />

Musiker in seinem Dorf und der näheren Umgebung für<br />

alle möglichen gesellschaftlichen Anlässe, bei denen populäre<br />

Tanzmusik erwünscht war, Feierlichkeiten wie Silvester,<br />

19


Rosenmontag, Tanz in den Mai, Kirmes, Schützenfest u.a.<br />

Zu seinen Engagements ging er zu Fuß, den Kontrabass auf<br />

den Rücken geschnallt, die Tuba vor der Brust befestigt.<br />

In dieser Aufmachung legte er viele Kilometer per pedes<br />

zurück. Das konnte der Nachkomme in seiner Präsentation<br />

erfreulicherweise mit einigen Fotos belegen, die, aufgenommen<br />

im Jahre 1921 und mit einigen Gebrauchsspuren ›verziert‹,<br />

ein Raunen im Publikum hervorriefen.<br />

Lang anhaltender Beifall für diesen Vortrag über den<br />

›Doppel-Bassisten‹.<br />

Im Publikum in der ersten Reihe wandte sich der Redakteur<br />

für Lokales des regionalen Tageblatts an seinen Begleiter,<br />

einen 28jährigen Volontär, mit den Worten: »Ich glaube, zu<br />

dieser Story sollten wir einen Artikel bringen!« Er ging zur<br />

Bühne und wurde mit dem Kontrabassisten schnell einig<br />

über einen Interview-Termin in den nächsten Tagen.<br />

Der Saal leerte sich.<br />

Als die beiden Zeitungs-Mitarbeiter die Gaststätte verließen,<br />

entwickelte sich auf dem Weg zum Parkplatz der folgende<br />

kurze Dialog:<br />

Redakteur: Na, was hat Ihnen heute Abend am besten gefallen?<br />

Volontär: Ehrlich gesagt: was man aus der Musik machen<br />

kann, wenn man sie nicht unbedingt elektronisch verstärkt.<br />

Redakteur: Das ist mir überhaupt noch nicht aufgefallen.<br />

Aber Sie haben Recht: Endlich mal wieder eine Band, die<br />

Musik macht mit Hand und Fuß, und die man sich auch<br />

anhören kann! Einfach genial, Klasse!<br />

20


Kluft & Rang<br />

Matthias Brinkmann und Timm Reineke lernten sich an<br />

einer norddeutschen Universität während ihres Lehramtsstudiums<br />

kennen und wurden Freunde. Nach einigen<br />

Berufsjahren an verschiedenen Schulen trafen sie sich an<br />

einem westfälischen Gymnasium wieder, wo sie beide eingestellt<br />

wurden.<br />

Reineke unterrichtete in den Fächern Latein und Deutsch,<br />

seine Amtsbezeichnung war Oberstudienrat; sein Kollege<br />

unterrichtete Deutsch und Politik, war Mitglied der Schulleitung<br />

(Direktor-Stellvertreter), seine Amtsbezeichnung<br />

war die eines Studiendirektors.<br />

Einmal im Jahr, während der Sommerferien, pflegten sie<br />

nach wie vor ein Relikt aus ihrer Studentenzeit, ein liebgewordenes<br />

Projekt, das sie nicht missen wollten: einen<br />

Wanderurlaub. Sie suchten sich ein attraktives deutsches<br />

Wandergebiet aus und blieben dort eine Woche. Es war<br />

stets eine Wanderung von A nach B in sieben Abschnitten.<br />

Alle Übernachtungen wurden vorher festgelegt, bis auf<br />

die letzte, die während der Schluss-Etappe ad hoc geklärt<br />

wurde.<br />

In diesem Jahr hatten sie sich für den Harz entschieden,<br />

das Mittelgebirge in Norddeutschland. Heute, am letzten<br />

Tag ihrer Wanderwoche, waren sie um 10 Uhr aufgebrochen<br />

und hofften, die vorgesehenen 20 Kilometer gegen 17 Uhr<br />

bewältigt zu haben.<br />

Gegen 14 Uhr – sie hatten also etwas mehr als die Hälfte<br />

21


ihrer Strecke zurückgelegt – beschlossen sie, eine Rast einzulegen.<br />

Wie gerufen lag am Waldesrand eine nette kleine<br />

Gastwirtschaft, um diese Zeit von einer überschaubaren<br />

Zahl an Gästen besucht.<br />

Matthias Brinkmann bestellte ein Pils, Timm Reineke ein<br />

Achtel Rotwein, halbtrocken. Der Wirt runzelte die Stirn,<br />

lachte hämisch und sagte dann: »Könnte es vielleicht ein<br />

Sechzehntel sein? Entschuldigen Sie bitte, dass ich lachen<br />

muss – aber ich stamme aus der Pfalz, und Sie werden dort<br />

kein einziges Lokal finden, in dem ein Achtel Wein bestellt<br />

und ausgeschenkt wird.« Vom Stammtisch der Biertrinker<br />

hörte man glucksendes Lachen. Reineke wurde die Sache<br />

peinlich, und um nicht länger als ahnungsloser Trottel dazustehen,<br />

ergänzte er seine Bestellung: »Also gut, geben<br />

Sie mir bitte einen halben Liter!« Der Wirt nahm es wohlgefällig<br />

auf.<br />

Brinkmann trank noch ein Bier, dann zahlten sie und<br />

setzten ihre Wanderung fort.<br />

Einige Minuten gingen sie schweigend nebeneinander,<br />

dann musste Reineke einfach reden. Man merkte ihm an,<br />

dass ihn die Zurechtweisung durch den Wirt beschäftigte,<br />

ja, dass sie ihn gekränkt hatte und er nun auf ein klärendes<br />

Gespräch mit seinem Freund hoffte. Der aber war<br />

entschlossen, die Angelegenheit zu verharmlosen und die<br />

Gegenposition einzunehmen – eine Taktik, die er in der<br />

Vergangenheit schon häufiger (bisweilen auch unbewusst)<br />

angewandt und die ihren Gesprächen oft ein gewisses Maß<br />

an Substanz und Dynamik gegeben hatte.<br />

Timm Reineke: »Wie der Wirt mich vor allen Leuten ’run-<br />

22


tergeputzt hat, das war allerdings ein starkes Stück! Ich<br />

hatte schon eine Antwort auf der Zunge, aber habe mich<br />

zurückgehalten«.<br />

Matthias Brinkmann: »Ach komm, vergiss es! Das ganze<br />

ist doch lächerlich!«<br />

T.R.: »Da hast du sicher Recht! Aber eine Frage beschäftigt<br />

mich doch: Wenn wir nicht in unseren Wanderklamotten<br />

das Lokal besucht hätten, meinst du, der Wirt hätte sich<br />

anders verhalten?«<br />

M.B.: »Worauf willst du hinaus?«<br />

T.R.: »Nun – die Wanderkleidung, die wir seit vielen<br />

Jahren tragen, ist eben nicht so trendy wie die Ausrüstung<br />

für neue Freizeitbeschäftigungen wie Nordic Walking – sie<br />

wirkt eher etwas bieder und altmodisch.«<br />

M.B.: »Bist du denn dafür, dass wir uns neu einkleiden?<br />

Modebewusster?«<br />

T.R.: »Nein – werd nicht albern!«<br />

M.B.: »Ah, ich merke, worauf Du hinaus willst! Das Thema<br />

ist dann wohl ›Kleider machen Leute‹«?<br />

T.R.: »Ja, kann man sagen!«<br />

M.B.: »Dieses Werk von Gottfried Keller ist mir als Schüler-Lektüre<br />

unglaublich auf die Nerven gegangen. Vielleicht<br />

war aber auch der Lehrer schuld daran, dass es mir verleidet<br />

wurde.«<br />

T.R.: »Ich fand und finde diese Erzählung meisterhaft<br />

geschrieben. Nach meiner Ansicht hat Keller die Thematik<br />

eindrucksvoll herausgearbeitet. Du solltest Dir das Buch<br />

noch einmal vornehmen – unvo<strong>rein</strong>genommen!«<br />

M.B.: »O.K., ich überlege es mir.«<br />

23


Sie verließen den Wald und gingen eine ziemlich steil<br />

abfallende Asphaltstraße hinab, die von einigen LKW, die<br />

im Dienste der Forstwirtschaft unterwegs waren, befahren<br />

wurde. Auf halber Strecke wurden sie überholt von einem<br />

›Gute Laune-Bus‹ im Dienste des Unternehmens ›Hans<br />

Wurst-Reisen‹ – darauf wies die weiße Schrift an der rechten<br />

Längsseite des Fahrzeugs hin. Der Autobus, in auffälligem<br />

Orange gestrichen, bot im Vorbeifahren auf seinen Außenflächen<br />

eine Anzahl Slogans, die einen Eindruck von dem<br />

Programm gaben, das in seinem Inneren ablief: »Gut drauf<br />

sein – (saubere) Witze erzählen – Geselligkeit – Karaoke<br />

– Musik aus der Quetschkommode – Stimmung«. Einige<br />

übermütige Mitreisende pressten ihre feixenden Gesichter<br />

an die Fensterscheiben und lachten die beiden Wanderer an<br />

(oder: aus?). Einen Kontrast bot der Fahrer, der mit mürrischem<br />

Gesicht hinter seinem Lenkrad saß. »Der Chauffeur<br />

heißt bestimmt Ernst mit Vornamen«, sagte Reineke. »Und<br />

mit Nachnamen Beiseite«, fügte Brinkmann an. Ihr Lachen<br />

hielt sich in Grenzen. Der Bus war nun außer Sichtweite.<br />

Nach weiteren 300 Metern führte sie der Wanderweg wieder<br />

in dichten Wald hinein.<br />

Matthias Brinkmann: »Übrigens fällt mir ein Theaterstück<br />

ein mit dem Titel »Der Talisman«, von Johann Nestroy, das<br />

›unsere‹ Thematik auf eine andere Ebene hebt.«<br />

Timm Reineke: »Ich weiß, ich weiß! Diese Komödie habe<br />

ich zigmal gesehen: ein rothaariger Friseurgeselle will den<br />

›Makel‹ seiner Haarfarbe ablegen, hantiert mit andersfarbigen<br />

Perücken und erringt damit einige gesellschaftliche<br />

Erfolge. Sehr witzig und sehr gut beobachtet ist das!«<br />

24


Die Wanderstrecke führte nun über einen Museumspfad,<br />

auf dem sie acht historische Nachbildungen von Kohlenmeilern<br />

passierten, die einst mithalfen, das Bild dieser<br />

Landschaft zu prägen.<br />

Timm Reineke: »Ich würde an dieser Stelle gern einmal<br />

zusammenfassen, worüber wir bisher diskutiert haben. Der<br />

Grundgedanke ist doch der: Wie kann man bei Fremden<br />

den bestmöglichen Eindruck erzielen, ohne das auch nur<br />

im Geringsten zu belegen?«<br />

Matthias Brinkmann: »Genau. Mir kommt gerade noch<br />

eine Facette zu dem Thema in den Sinn: Die Jagd nach Titeln.<br />

Ephraim Kishon hat einmal sinngemäß gesagt, dass<br />

man seinem Sohn am besten den Vornamen ›Doktor‹ geben<br />

sollte, dann würde dieser in seinem Leben keinerlei<br />

Schwierigkeiten bekommen.«<br />

T.R.: »Auf die Art hätte man Herrn Verteidigungsminister<br />

zu Guttenberg – was doch auch schon ein gewaltiger<br />

Titel ist? – oder auch Frau Bildungsministerin Schavan viele<br />

Mühen ersparen können, oder?«<br />

M.B.: »Man könnte eine ellenlange Liste anlegen über<br />

Leute, die sich Titel angemaßt haben; ein Beispiel ist der<br />

frühere deutsche Bestseller-Autor Karl May, der sich mit einem<br />

falschen Doktor-Titel schmückte. Ob er das heute noch<br />

nötig hätte? Die Doktor-Arbeit könnte er sich von einem<br />

Ghostwriter ausarbeiten lassen, und es gibt Titelhändler,<br />

die praktisch mit jedem Titel, ob Konsul, Graf oder Baron,<br />

dienen können.«<br />

T.R.: »Wenn ich es recht bedenke, würde sich doch der<br />

optimale Erfolg einstellen bei einer Kombination von ein-<br />

25


drucksvoller Kleidung und eindrucksvollem Titel, das würde<br />

dann wohl alle Türen und Herzen öffnen. Gibt es auch<br />

da ein Beispiel?«<br />

M.B.: »Ich meine: ja! Ich denke an Carl Zuckmayers<br />

Theaterstück ›Der Hauptmann von Köpenick‹, konzipiert<br />

nach einer wahren Begebenheit. Der Schuhmacher Wilhelm<br />

Voigt, wegen etlicher Betrügereien vorbestraft, zog sich eine<br />

Hauptmanns-Uniform an und gab sich die Befehlsgewalt<br />

über einen Trupp Soldaten, und alle machten mit! Das Auftreten<br />

des Schusters war stilsicher und hinterließ einen überwältigenden<br />

Eindruck. Die Handlung dieser Tragikomödie<br />

bezieht sich zwar in erster Linie auf die Militarisierung der<br />

Gesellschaft im Wilhelminischen Zeitalter, trägt aber auch<br />

zeitlose Züge.«<br />

Der Wanderweg führte sie erneut aus dem Wald hinaus,<br />

sie waren am Rande der Kleinstadt angekommen, in der sie<br />

übernachten wollten. Den größten Teil ihres Fuß-Wegs hatten<br />

sie nun bewältigt und im Gefühl, als Wanderer und als<br />

Diskutanten wieder ein paar Erkenntnisse mehr gewonnen<br />

zu haben, gingen sie gemächlich die Hauptstraße hinunter<br />

und standen nach 300 Metern vor einem grell-gelb gestrichenen<br />

Haus, auf dessen Frontseite schwarze Riesenlettern<br />

verkündeten, mit wem & womit man es hier zu tun hatte,<br />

nämlich mit ›Friedel Gastro‹; darunter, in etwas kleinerer<br />

Ausführung, lasen sie die Erläuterung: ›Das etwas andere<br />

Lokal‹.<br />

Ein Kästchen mit Hausmitteilungen klärte sie auf: Der<br />

Inhaber hieß Friedrich Kunold, er war ein leidenschaftlicher<br />

Verehrer des kubanischen Revolutionärs Fidel Castro, auch<br />

26


ekannt als Máximo Líder. Drei Fotos zeigten Kunold in<br />

freundschaftlicher Pose mit Castro.<br />

»Das Wortspiel ist gelungen, mal seh’n, was das Lokal<br />

sonst noch zu bieten hat«, bemerkte Brinkmann, denn es<br />

warb für sich mit karibischer Küche sowie acht Fremdenzimmern.<br />

Die beiden stellten sich in die Eingangstür, um<br />

sich einen Eindruck von der Atmosphäre zu verschaffen.<br />

Der ›Chef‹ stand auf der Bühne und gab, begleitet von einer<br />

Combo, ein Lied in spanischer Sprache zum Besten,<br />

lebhaft und temperamentvoll. Leider wurde die Wirkung<br />

der Musik beeinträchtigt durch ihre fast unerträglich große<br />

Lautstärke. Reineke wies seinen Freund auf ein Plakat<br />

hin, welches verkündete, dass heute ab 16 Uhr zu jeder<br />

vollen Stunde ein 40minütiges Musikprogramm von Friedel<br />

Gastro mit seiner Band dargeboten würde. Inzwischen<br />

intonierten sie ein neues Stück, feurig wie das vorige und<br />

ohne große Schwierigkeiten zu erkennen als Lobgesang auf<br />

alle Revolutionen.<br />

»Wir scheinen es hier mit einem Selbstdarsteller zu tun<br />

zu haben«, bemerkte Reineke. »Könnte ein Thema werden<br />

für unsere nächste Wanderung«, fügte Brinkmann hinzu.<br />

Die beiden spürten in sich eine aufkommende Nervosität<br />

und beschlossen, sich einen anderen Gasthof zu suchen.<br />

In der Nähe des Marktplatzes fanden sie ein solidekonservativ<br />

aussehendes Hotel mit dem Namen »Harzer<br />

Roller«. Sie gingen hinein, standen in ihrer Wanderausrüstung<br />

an der Rezeption und Brinkmann fragte, ob für die<br />

folgende Nacht zwei Einzelzimmer frei seien – während der<br />

Hotel-Angestellte hinter dem Empfangstresen sie blasiert<br />

27


musterte. Die höfliche Antwort, begleitet von einem herablassenden<br />

Lächeln, war: »Leider nicht, wir sind komplett<br />

ausgebucht!«<br />

Reineke steckte eine Visitenkarte des Hotels ein und sie<br />

wandten sich dem Ausgang zu.<br />

»Was nun?« fragte Brinkmann. »Komm mit!« sagte Reineke,<br />

»ich werde jetzt den Beweis antreten«. »Was für einen<br />

Beweis?« »Wart’s ab!«. Sie gingen ein paar Schritte, bis sie<br />

außer Sichtweite des Hotels waren, und setzten sich auf<br />

eine Parkbank. Timm Reineke holte die Visitenkarte des<br />

Hotels aus einer Jackentasche, dazu sein Handy, wählte die<br />

einschlägige Nummer und, als sich die Rezeption meldete,<br />

sagte er: »Oberstudienrat Brinkmann und Studiendirektor<br />

Reineke lassen anfragen, ob Sie für heute Nacht noch zwei<br />

Einzelzimmer frei haben.« Umgehend kam die Antwort:<br />

»Selbstverständlich! Wann haben Sie vor, zu kommen?«<br />

»Ziemlich bald, bis gleich!«<br />

Sie betraten wieder das Hotel und gingen zum Empfang.<br />

Reineke begann einen Satz: »Studiendirektor Reineke …«,<br />

wurde jedoch unterbrochen mit den Worten: »Ja, ich weiß<br />

schon!«<br />

Alle waren offenbar zufrieden, nur das Lächeln des Rezeptionisten<br />

schien etwas verrutscht zu sein.<br />

28


Ein appwexlunksreicher Tag<br />

Am Freitagmorgen stehe ich nach durchwachter Nacht um<br />

9:35 auf; stundenlang hatte ich über eine Schrift des dänischen<br />

Philosophen Søren Kierkegaard nachgegrübelt. Das<br />

Werk trägt den Titel »Die Wiederholung« und seine Kernsätze<br />

lauten: »Wiederholung und Erinnerung sind dieselbe<br />

Bewegung, nur in entgegengesetzter Richtung. Denn was da<br />

erinnert wird, ist gewesen, wird nach rückwärts wiederholt,<br />

wohingegen die eigentliche Wiederholung nach vorwärts<br />

erinnert.« Und: »Wiederholung, das ist die Wirklichkeit und<br />

der Ernst des Daseins.«<br />

Um 10:15 sitze ich am Frühstückstisch und versuche, mich<br />

vorwärts daran zu erinnern, was mir an der ersten Mahlzeit<br />

des Tages nicht gefallen wird – und da weiß ich es: Es ist<br />

»malmitalmighurt«, der bescheuerte Name eines leckeren<br />

Fruchtjoghurts. Dagegen lässt mich die Rückwärts-Erinnerung<br />

an einen harmlosen Wortwitz denken: »Ich heiße<br />

Johannes-Kurt, nennen Sie mich doch einfach Jo-Kurt!«. Der<br />

erwähnte Fruchtjoghurt hat heute einen ungewohnt strengen<br />

Geschmack: Ein Blick auf das Verfallsdatum sagt mir, dass<br />

ich dabei bin, mir den Magen zu verderben. Sei’s drum!<br />

Zur Abrundung des Geschmacks schütte ich ein wenig<br />

gehärtetes Trockenmüsli über die Milchspeise. Diese Mischung<br />

will gut durchgekaut sein, doch dann fällt mir bei<br />

einem herzhaften Biss die (nicht gerade billige) Füllung<br />

aus einem Backenzahn der linken Gesichtshälfte heraus.<br />

Ich bewahre sie auf, durch Erfahrung gewitzigt, denn nach<br />

29


dem letzten ähnlichen Vorfall warf ich eine solche Füllung<br />

wütend in den Müll und musste mir für diese Dummheit<br />

von meinem Zahnarzt die spöttische Bemerkung anhören:<br />

»Wer hat, der hat!«<br />

Ich wende mich der Zeitungslektüre zu, und da sind es<br />

zwei Themen, die meine Aufmerksamkeit beanspruchen:<br />

die Halbwertzeit einer Trainerkarriere in der Fußball-<br />

Bundesliga und das Zusammenwachsen Europas auch in<br />

sprachlicher Hinsicht. Zum ersten Punkt: Das vollkommen<br />

überhitzte Tages-(Geld-)Geschäft bestimmt im Fußball, welche<br />

Schlüsselfigur geopfert wird, wenn es mal nicht »rundläuft«;<br />

kaum einmal erwischt es einen Spieler, in gar keinem<br />

Falle den Ve<strong>rein</strong>spräsidenten. Neulich hat man einen namhaften<br />

Trainer nur für ein entscheidendes Spiel verpflichtet,<br />

das er mit der Mannschaft nicht gewann; schon während<br />

der ersten Halbzeit schwächelte sein Team; erstaunlich, dass<br />

er nicht schon in der Halbzeitpause gefeuert wurde.<br />

Die zweite Meldung, die mein Interesse weckt, betrifft<br />

eine aus Sachsen stammende Dame, die an einem westdeutschen<br />

Flughafen ein Ticket kaufte und als Ziel ›Bordeaux‹<br />

angab. Das Flugzeug landete in Porto. Eine Klage gegenüber<br />

der Luftfahrtgesellschaft blieb ohne Erfolg; die Mitarbeiterin<br />

am Ticket-Schalter habe sich auf die allgemein etablierte<br />

Aussprache des Zielortes verlassen.<br />

Um 10:55 gehe ich aus dem Haus; zum Messe-Schnellweg,<br />

etwa 150 Meter Luftlinie von meiner Wohnung entfernt. Die<br />

Straße, auch als Hurtig-Route [Rückwärts-Erinnerung an<br />

den Joghurt?] verspottet, ist bekannt dafür, dass dort die<br />

Autofahrer ihr Bestes geben.<br />

30


Ich habe zwei Einkaufstaschen vollgestopft mit Pappe<br />

und Altpapier, die ich in einem nahegelegenen Container<br />

entsorgen will. Als ich dort ankomme, muss ich feststellen,<br />

dass ein freundlicher Mensch die Einwurfschlitze mit nur<br />

längsseitig gefalteten Kartons blockiert hat. Mir bleibt nichts<br />

anderes übrig, als mein Altpapier zum nächsten Container<br />

zu tragen, der 700 Meter entfernt stationiert ist. Das Papier<br />

kann ich dort problemlos einwerfen, doch gleichzeitig<br />

werde ich Zeuge einer für mich neuen Spielart kreativen<br />

Recyclings: Links neben mir befindet sich ein Container<br />

für ausrangierte und defekte Elektrogeräte. Ein Vater hebt<br />

seinen etwa fünfjährigen Sohn in den Container und dieser<br />

reicht seinem Papa eine Anzahl Elektro-Altgeräte heraus.<br />

Weiter auf dem Messe-Schnellweg: ich komme zu einem<br />

Supermarkt mit dem einfallslosen Namen »Dies & Das«,<br />

wo ich ein paar Äpfel kaufen möchte. Als ich – berieselt von<br />

Muzak – in der Warteschlange vor der Kasse stehe, betritt<br />

ein Hobo das Geschäft und geht an der Schlange vorbei zur<br />

Getränke-Abteilung. Für jeden sichtbar, holt er vor dem<br />

Spirituosen-Regal zwei leere Dreiviertel-Liter-Flaschen,<br />

unlängst noch mit Cognac gefüllt, aus seinem Rucksack<br />

hervor, stellt diese behutsam ins Regal, nimmt aus diesem<br />

zwei volle heraus und verstaut sie. Eine Kassiererin beobachtet<br />

fassungslos die Szene. Sie springt wütend von ihrem<br />

Sitz hinter der Kasse auf, dabei ihre Klientel mit gefüllten<br />

Einkaufswagen und -körben sich selbst überlassend, und<br />

eilt in Richtung des freimütigen Shoppers, der inzwischen<br />

damit beschäftigt ist, Mineralwasser-Flaschen in eine Kühltruhe<br />

zu entleeren, um sich anschließend das Pfand für<br />

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die Mehrwegflaschen zu sichern (wie mir ein Kunde in<br />

der Warteschlange zuflüstert, der hier gerade ein Déjà-vu<br />

erlebt). Ich bin nicht begierig darauf, diesen Auftritt noch<br />

länger zu verfolgen, bringe die Äpfel zurück zur Obst- und<br />

Gemüseabteilung und verlasse den Laden.<br />

Draußen – zwei Häuser weiter – hockt ein junger Bettler<br />

mit dunkler Hautfarbe auf dem Bürgersteig, vor sich<br />

einen Hut postiert, an den ein Zettel geheftet ist mit der<br />

Aufschrift: »Ich habe Hunger«. Ich greife in meine linke<br />

Jackentasche, und schon bedankt er sich wortreich. Doch<br />

es ist wie verhext: in keiner meiner Jacken- oder Hosentaschen<br />

finde ich auch nur das kleinste Kleingeld. Es ist<br />

mir äußerst peinlich, ich schäme mich und gehe schließlich<br />

achselzuckend weiter.<br />

Ziemlich schnell werde ich aus meinen Gedanken gerissen:<br />

Einen Steinwurf entfernt erblicke ich eine Gruppe<br />

von Neugierigen vor einem Wohnhaus, die fasziniert zu<br />

einem offenen Fenster im Zweiten Stock hochschaut. Beim<br />

Näherkommen höre ich, dass dort oben eine Verbalschlacht<br />

zwischen einem Mann und einer Frau tobt. Nach einer Weile<br />

zeigt sich der Mann für einen Moment und hebt dann einen<br />

veritablen Fernseher in die Fensteröffnung, schaut hinunter<br />

und lässt den Apparat nach unten fallen. Einige Zuschauer<br />

schreien kurz auf, als das Gerät krachend auf dem Bürgersteig<br />

landet, zum Glück dicht neben der Hauswand. Die<br />

Zuschauergruppe ist blitzschnell auseinander gestoben, so<br />

dass niemand verletzt wird. Der Mann zeigt sich noch einmal<br />

am Fenster, dann geht der Kleinkrieg weiter. In diesem<br />

Augenblick fällt mir ein Zitat von Søren Kierkegaard ein:<br />

32


»Alles, was dir begegnen wird, ist leider nicht zu vermeiden.«<br />

Recht hat er, dennoch würde ich gern heute auch<br />

noch ein paar friedliche Szenen erleben.<br />

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, erstreckt sich<br />

ein kleines Waldstück mit Namen »Laubfrosch-Hain«. Ich<br />

überquere die Straße und gehe den Haupt-Wanderpfad des<br />

Waldes hinunter. Ein niedlicher Terrier rast an mir vorbei,<br />

nicht angeleint, und ich will mich nach seinem Besitzer umschauen.<br />

Das ist nicht nötig, denn <strong>akustisch</strong> ist dieser im<br />

selben Moment zu vernehmen: »Johann, du Idiot, komm<br />

sofort zurück!« Ich frage mich, welcher Pate bei der Namensgebung<br />

dem Herrchen vorschwebte: Cruyff, Bach,<br />

Goethe, Hebel, Nestroy, Strauß, … ohne Land oder keiner<br />

von diesen.<br />

Ich steuere nun auf die Attraktion dieses Waldstücks zu,<br />

einen kleinen Teich ohne Namen, der gern von Passanten<br />

aufgesucht wird, die ihn umrunden, und solchen, die ihn<br />

von Parkbänken aus betrachten und beim Anblick der ruhigen<br />

Wasserfläche Abstand zur Hektik der Schnellstraße<br />

gewinnen wollen.<br />

Am Südufer bemüht sich eine Hundehalterin, ihrem Basset<br />

zu etwas Bewegung zu verhelfen – was ihm überhaupt<br />

nicht zu gefallen scheint. Sie schleudert ein Stöckchen ins<br />

Wasser und bittet ihren Hund mit dem klangvollen Namen<br />

›Desmond‹, dieses Objekt zu apportieren. Bassets können<br />

einen recht indignierten Gesichtsausdruck aufsetzen, dieser<br />

sieht aus wie ein erstrangiger Butler, dem man aufgetragen<br />

hat, nach einem Kindergeburtstag das Geschirr persönlich<br />

zu spülen. Ich erlebe fünf Würfe der Hundebesitzerin, doch<br />

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